Mit fast 40 Positionen auf der Liste bietet Sankt Annagarten ein umfassendes Bild Württemberger Weintradition, dies auf moderne Art und ohne allzuviel auf Neuzüchtungen zu setzen. Neben den vielfältigen Produktlinien - man darf sich durch sechs davon kämpfen -, die aus der explosiven Innovationsfreudigkeit Marcel Wiedenmanns entstehen, sind die Basis-Qualitäten von Trollinger und Lemberger immer noch sichere Bank und zwingender Einstieg, auch wenn die Erforschung des weiteren Programms mit seinen bemerkenswerten Weißweinen lohnt.
Nachtrag: was nützt die gelungene Verpackung, wenn der Inhalt nichts taugt. Wenn aber hochwertige Weine mit derart gut gemachtem Produktdesign daherkommen, verdient das unsere Anerkennung.
Wir erinnern uns an den ein oder anderen bemerkenswerten Kerner, Riesling paßt jedoch viel besser zum Qualitätsanspruch Marcel Wiedenmanns. 2008 Riesling trocken “Die 3. Generation”, der Gartenkräuterwein: Aromen von Minze, Melisse, Holunderblüten, etwas Honig und Heu. Läuft kräftig, aber fein über die Zunge und besitzt so viele Facetten, daß er zum Meditieren einlädt. Er paßt deshalb als hochklassiger Aperitif und Sekt-Alternative zum lärmenden Empfang von Gästen ebenso wie zur einsamen Stunde - etwa, wenn alle wieder weg sind. 2009 Riesling Kabinett halbtrocken: trotz immerhin 12 Vol-% fein, erfrischende Schärfe und intensives Zitrusaroma, nicht zu süß. Könnte auch eine Qualitätsstufe höher angesiedelt sein. Der Vergleich des trockenen 2010 Riesling Kabinett mit dem 2011er verdeutlicht den Unterschied der Jahrgänge: der 2011er ist milder, blumiger und gelbfruchtiger - eindeutig die Wahl. Auch der 2016 Riesling trocken "Gipskeuper" mit seiner grüngelben (Gras, Paprika, Zitrone) Aromatik und etwas Kalk ist ein schmeichelnder, fast zarter Wein. Er braucht Zeit zur Entfaltung, nicht zu niedrige Temperatur und keine allzu energischen Essensbegleiter.
Graue Burgunder aus Württemberg werden selbst für Liebhaber der Badener langsam interessant, zum Beispiel der 2013 Grauer Burgunder "Schilfsandstein" Spätlese trocken. Natürlich macht Marcel Wiedenmann es seinen Kunden mit diesem extrem trockenen Grauburgunder nicht leicht. Frisch, untypisch, nichts weniger als einfach und schmeichelnd. Aromatisch von Südfrüchten, Kräuterakzenten und feiner Mineralik geprägt. Im Rahmen eines "Bio-Menüs" servierte der Weinsberger Rappenhof Ende 2014 Dinkelnudeln in Rahm und gebratenen Wolfsbarsch zu diesem Wein. Paßte wunderbar, dem etwas schwachbrüstigen 2016er würden wir diese Begegnung jedoch lieber nicht zumuten. Schließlich dürfte es die mirabellenfruchtige 2015 Ruländer Auslese mit ihrem Hauch Langeweile angesichts nachbarschaftlich-badischer Konkurrenz schwer haben.
Sauvignon blanc hat als „Muskatsilvaner“ große württembergische Tradition, weshalb die besten deutschen Sauvignon blancs angeblich aus Württemberg kommen. Falls das stimmt, hat Sankt Annagarten großen Anteil daran: der 2009 Sauvignon blanc trocken “Die 2. Generation” war bei unserer ersten Probe 2010 von graziler Struktur und delikatem Aroma von Stachelbeeren und grünen Äpfeln, frisch und anregend. Anfang 2015 präsentiert er sich aromatisch kräftiger und eher auf der herben, paprikaduftigen Seite, weich, sehr vollmundig und ohne jede Ahnung von Altersfirn. Nach wie vor eine Referenz für Muskatsilvaner.
Aus fast 50 Jahre alten Reben gewinnt Sankt Annagarten einige der wirklich bemerkenswerten Trollinger dieser Weinwelt. Sie sind untypisch dunkel, kräftig mit festem Körper, sortentypisch, geschmacklich aber leicht unter hundert Konkurrenten wiederzuerkennen. Der 2009 Beilsteiner Wartberg Trollinger „Alte Rebe“ QbA trocken zum Beispiel ist ein saftiger, erdbeerfruchtiger Wein mit langem, bitterem und trockenem Nachgang. Einen 2010er öffneten wir im Frühsommer 2016, und er wies nur mit verdächtiger Farbe auf sein Alter hin. Im Mund überzeugte er mit Frische, Körper, reicher Frucht und kompromißloser Trockenheit - ein Meisterstück an Trollingerkunst. Mit dem 2014er im Glas wurde eine kürzliche Probierrunde poetisch: Tau, Morgennebel - aber den Wein traf das präzise.
Die halbtrockene Variante am Beispiel des 2009 Trollinger “Alte Rebe - Tradition” ist natürlich zugänglicher, kann ganz unkompliziert weggetrunken werden, enttäuscht aber auch nicht, wenn man hineinhorchen will. Der 2015 Trollinger "Alte Reben" trocken ist aromatisch dem trockenen 2009er ganz ähnlich, jahrgangsbedingt aber viel süßer, ebenso endlos lang, vollmundig und ausgewogen, extrem weich und gegenüber begleitenden Speisen gnadenlos - erst im ajvargesättigten Schwarzbiergulasch fand er seinen Bezwinger, die schwäbisch-italienische Küche zwischen "Pasta und Pizza" (Michael Graf Adelmann) hingegen beherrschte er problemlos.
Und die neue Generation? Am 2013 Generation Trollinger! trocken ist die Entwicklung der "Generation"-Linie und - wenn man will - auch die von Marcel Wiedenmann gut abzulesen, vor allem aber, was Trollinger zu leisten vermag: 2011 lehnten wir das Experiment, auch das letzte Quentchen Kraft und Klasse aus der Traube rauszuholen noch ab; schon der 2013er dagegen war ein top-of-the-line-Trollinger, und mit dem 2014er ist Marcel Wiedenmann möglicherweise dort angekommen, wo er hinwill: reiche, herbe Frucht, von Noten aus dem Holzausbau umfangen; sanft, cremig, sehr saftig und unbedingt trocken - eine neue Referenz, die den Konsum von allem Trollinger-mainstream fast unmöglich macht. Der 2015er offenbart nun eine seltsame Eigenheit. Natürlich: Brombeere satt, Tannennadeln, weiche mineralische Noten; auf der Zunge aufbrausend, kräftig, gnadenlos trocken - ein tiefer, nachdenklicher Wein und: ein Alleinunterhalter. Wir probierten ihn im Duett mit dem oben vorgestellten 2015 Trollinger "Alte Reben" trocken als Begleiter geschmälzter Maultaschen samt Kartoffelsalat, wie sich das so gehört, und sofort wurde der "!" kraftlos, beinahe wässrig, verlor nahezu alle Facetten. Wohingegen der leichte "Alte Reben" Essig und Bratensoße mühelos im Zaum hielt und seine Johannisbeerfrucht ungeniert und kraftvoll ausspielte. Der Vesperwein par excellence, denn das "trocken" darf man nicht zu wörtlich nehmen.
Über selten zu findenden guten Samtrot schrieben wir an anderer Stelle. Sankt Annagarten bietet den 2012 Samtrot trocken "Annaweinberge" an. Der ist faßgelagert, zeigt jedoch weniger Tertiäraromatik, sondern leichte Reife und Tiefe. Ein gelungener Samtrot, der seinem Verwandten Spätburgunder Ehre macht und den Zugang zur Sorte, sprich: ihre Akzeptanz erheblich vereinfachen sollte.
Nachtrag Sommer 2017: die Hoffnung haben wir längst aufgegeben. Trotzdem. Trinkt Samtrot - lange wird es ihn nicht mehr geben!
Zu den Lembergern. 2008 Lemberger - im Duft feines Holz, Zimt, Muskat, Pfeffer, vergorene Zwetschge; im Mund vollkommen ausgewogen: grünwürzig - ein über die Jahre gleichbleibendes, sicheres Erkennungsmerkmal der Sankt Annagarten-Lemberger -, dunkle Schokolade, etwas Paprika, die Stilistik samtig und füllig. Der 2012 Lemberger trocken "Tradition" kommt ohne eindrucksvollen Körper daher. Im Duft fruchtige rote Grütze, Zimt, geschmacklich streng mit roter Johannisbeere. Trockener Nachgang, bockig, echt. Der 2012 Lemberger "Tradition" ist mit etwas höheren Restzucker immer noch kein süßer Wein, aber weicher, zugänglicher und unkomplizierter. Den trockenen Lemberger trinkt man bewußt und streitet etwas mit ihm. Den lieblicheren vernichtet man nebenher und ist erstaunt, daß sich die Flasche so schnell geleert hat. Schließlich stellte der 2012 Lemberger trocken "Annaweinberge" seinerzeit den Höhepunkt dar: kräftige, dunkelbeerige Aromatik mit überreifer Johannisbeere, tanninstark, pfefferwürzig, feine Holznoten, kurzum: Archetyp des kantigen, aber hochklassigen Württembergers. Der 2015 Lemberger trocken "Roter Keuper" ist bereits in seiner Jugend intensiv rotfruchtig, fast denkt man an die berühmte rote Grütze. Liebstöckel, weißer Pfeffer und ein Hauch Zimt runden den duftigen Wein ab. Auf der Zunge glasklar, am Gaumen heiß, stark, voll - keinerlei Zugeständnis an sensiblen Luxusgeschmack! Im direkten Vergleich mit dem 2012er wird die konstante Annäherung an das Maximum, das die Traube schenken kann, schmeckbar.
Die 2012 Anna Cuvee "R" Kult aus Dornfelder und Spätburgunder ist eine Art Partywein: dunkelviolett in der Farbe, aromatisch fruchtig mit Heidelbeere, überreifer Schwarzkirsche und etwas Rauch, nicht zu süß, nicht zu schwer, nicht zu trocken und mit gerade soviel Säure, daß der Wein nicht glatt wird: ein Rundum-sorglos-Paket zu günstigem Preis. Ob der Wein als "Kult" bezeichnet werden muß, sei dahingestellt. Die Cuvee 2007 Sankt Anna Selbdritt Barrique trocken (2010er AP-Nummer) aus Lemberger, Spätburgunder und Cabernet Cubin markiert wohl die Spitze des Programms: handverlesene Trauben eines Spitzenjahrgangs, aufwendige Kellerarbeit und zwei Jahre Barriqueausbau, teilweise in heimischem Holz, ergeben einen dunklen, ungemein dichten und reichen Wein. Während Fritz Kraft seine aus den gleichen Sorten komponierte "Cuvee No. 3" als typischen Grillwein bezeichnet (nun gut, er verwendet Cabernet Dorsa), sollte Anna Selbdritt eher von Hirsch, Wildschwein oder anderem kräftigem Wild hinweggetragen werden. Als Alleinunterhalterin macht sie weniger Spaß.