Seit seiner Gründung 1881 hat sich das VDP-Weingut Stigler zu einer der ersten Weißweinadressen Badens und vielleicht Deutschlands entwickelt und wird dafür in der Fachpresse gebührend gefeiert. Auf rund 13 ha stehen Burgundersorten, Silvaner, Traminer, Sauvignon blanc und Chenin blanc, Schwerpunkt liegt jedoch auf Riesling, der vorwiegend als VDP.ErsteLage® und VDP.GrosseLage® klassifiziert ist. Der Grundcharakter der Weine ist die ausgesprochene Feinheit: selbst die alkoholstärksten Weine wirken keineswegs wuchtig, und ihr graziler Stil erstaunt angesichts ihres aromatischen Reichtums bei jedem Genuß aufs Neue. Das beängstigend große Programm umfaßt beinahe 100 Positionen, was nur durch Beschränkung zu bewältigen ist - bei Stigler mittels kleiner Mengen, beim Kunden durch genaue Vorstellung darüber, worauf man sich konzentrieren will und was man getrost beiseite lassen kann.
Stigler-Weine verlangen und verdienen Geduld: Sieben bis zehn Jahre dürfen diese großen Weine ruhig lagern. Dabei machen wir immer wieder die Erfahrung, daß der Zahn der Zeit an diesen feinen Tropfen manchmal stärker nagt als erwartet. Die Jahrgänge - wir beobachten seit 2006 - und selbst Weine derselben Charge schwanken qualitativ erheblich, mehr als anderswo, aber das liest man in der "Fach"-Presse" natürlich nicht.
Ein wirklicher Exot im Kaiserstuhl ist der Chenin blanc, einst französischer Kontrapunkt zum Riesling, hierzulande kaum zu finden und heute eher in Südafrika (als "Steen") und Übersee en vogue. Stigler bietet die fäulnisempfindliche und Schädlingsanfällige Sorte nur aus idealen Jahrgängen an, hin und wieder auch als Cuvee mit seinem Verwandten Sauvignon blanc. Im Vorfrühling 2015 öffneten wir eine Flasche der 2009 Chenin blanc Spätlese trocken - "aus Versuchsanbau", denn die seit Jahrhunderten kultivierte Sorte ist hierzulande ja nicht "offiziell klassifiziert". Ähnlich wie Chardonnay läßt sich Chenin blanc stilistisch in vielerlei Richtungen dirigieren. Stigler baute ihn seinerzeit nach Riesling-Machart aus: klar, feinnervig, transparent, im Duft intensiv gelbfruchtig, geschälte Mandel, Kalk, im Mund ausdrucksvoll und frisch ohne ausgeprägte mineralische Akzente, dafür umso mehr apfelfruchtig, herbe Kräuter, weißer Pfeffer, ja genau: ein Wein mit Pfeffer, und zwar viel davon. Sortentypisch freche, aber gut verwobene Säure, die ihn auch im Sommer 2019 noch zu einem Erlebnis werden ließ (Nachtrag Herbst 2020: dito). Der frische 2016er ist wiederum gelungen: bittersüßer Duft wie von Heu, Kaffee, Blüten; im Mund rassig, kräftig, würzig. Zitrusbestimmt und schmeichelnd süß mit langem Nachhall. Kein Essensbegleiter, den man wählt, weil er nicht weiter stört. Vielmehr einer, zu dem man Edelfisch, Krustentiere oder die Gemüse sorgfältig aussuchen muß, damit sie nicht vom Tisch gefegt werden. Aber es ist auch ein Wein, der - wenn das alles zu kompliziert wird - auch ganz unkompliziert alleine getrunken werden kann. Achtung: 14 Vol-%. Am 2014 Grauburgunder trocken F1 "Oberrotweil" beeindruckte uns im Frühjahr 2021 vor allem sein waldhonigschwangerer Duft, abgerundet von herbem, grünem Apfel. Im Mund dicht, beinahe voluminös, apfelfruchtig, und irgendwie werden wir den Eindruck von Ananas nicht los, die ja nicht immer süß ausfällt. Keinerlei Holzeinfluss schmeckbar. Gereift, aber dank präsenter Säure kraftvoll und frisch, raue, gleichzeitig sanfte Textur wie bei Kartoffelpüree. Bäumt sich im pampelmusenfruchtigen Abgang schön auf. Schließlich zeigt der 2018 Chardonnay trocken vom Ihringer Winklerberg beispielhaft, was der Weinjargon mit dem Begriff "straff" meint: feste und glasklare Struktur, Säure, die spürbar, aber gerade noch sanft am Gaumen zerrt, Präsenz, die sich durch keinen Essensbegleiter beirren läßt, und hier alles untermalt von feiner gelber Frucht, die durchaus süß ausfällt. Hochklassige Kaiserstühler Chardonnay-Interpretation.
Zu den Rieslingen: das waren vor einigen Jahren und zumindest in der GG-Klasse klare Alternativen zu den großen Namen von Rheingau oder Mosel. So schenkte uns der lebendige, honigduftige und aromatisch ungemein schillernde 2007 Ihringer Winklerberg Riesling F36 trocken GG bei der ersten Probe 2014 großes Vergnügen und verdient Anfang 2020 ebenso großen Respekt. Er verlor in den Jahren kaum etwas von seiner Kraft, zeigt Altersfirn, natürlich, aber der verleiht großen Rieslingen wie diesem nur eine weitere faszinierende Facette. Der 2010er schläfert mit seinem tiefen, exotischen Duft ein und weckt mit bittersüßen Kräutern und Zitrus wieder auf. Vollmundig und dank feinem, saftigem Säurespiel trotzdem schlank wirkend. Natürlich verliert er seit 2018 an Kraft, aber das ist nicht der Grund, weswegen wir erstklassigen Riesling nach wie vor lieber weiter nördlich suchen. Dieser Duft, wenn ein Sommerregen beginnt, Honig, ein Obstgarten oder die Blumenwiese in der Sonne, stahlige Mineralität bis hin zum Petrolton - alles was wir an Riesling schätzen, präsentiert sich bei diesen Tropfen hier doch sehr zurückhaltend. Mit dem Chenin blanc treffen Liebhaber der starken Musik jedenfalls die bessere Wahl.
Die rosenduftige 2007 Ihringer Winklerberg Traminer Spätlese trocken begleitet uns im Herbst 2020 seit dreizehn Jahren. 2008 erwarben wir die erste Kiste, waren vom jungen Wein schwer beeindruckt und schlugen ein Jahr später - gegen einigen Widerstand des Personals - nochmals zu. Aromatisch ist der Wein von süßer Birne, Ananas und getrockneten Kräutern bestimmt, sehr weich und schmeichelnd auf der Zunge, kräftig am Gaumen. Typisch auch die Entwicklung über die Jahre: eine im Sommer 2013 geöffnete Flasche war tot, weitere im Frühsommer 2014 und im Januar 2017 perfekt. Im Herbst 2020 war der Wein für Stiglersche Verhältnisse schwer geworden, intensiv, dramatisch, honigsüß, mineralisch salzig. Und zum Jahreswechsel 2022/2023 öffneten wir die letzte Flasche dieses inzwischen etwas müde gewordenen, aber immer noch großartigen Weines. Wir sind gespannt, ob der alkoholstarke, muskat- und birnenfruchtige 2015er ein würdiger Nachfolger sein wird.
Es ist immer ein Vabanquespiel. Nehmen wir den 2005 Ihringer Winklerberg QbA Spätburgunder trocken RS. In der Farbe an Trollinger erinnernd füllte der Wein den Mund beeindruckend, war körperreich ohne schwer zu wirken, und verschwand, ja verflüchtigte sich irgendwann. Bei der ersten Probe 2010 hinterließ der Wein Leere oder präziser: die Erwartung erheblich bissigerer Noten. Zwischendurch hatten wir ein Streichergebnis. Vier Jahre später präsentierte er sich als Schmuck der ganz großen Tafel, und wer weiß, wie er sich in den zwanziger Jahren präsentieren wird. Einem 2012 Ihringer Winklerberg Spätburgunder trocken gaben wir im Spätsommer 2017 nicht mehr viel Zeit. Der stark mineralische, hochreife Spätburgunder hatte seine Frucht (Pflaumenmus) noch nicht verloren, die Aromatik bewegte sich aber stark in Richtung streng-bitter. Auf der Zunge weich, rundgeschliffene Tannine, guter Nachgang. Vielleicht sollte man doch eine Stufe höher wählen und zwar den 2011 Freiburger Schlossberg Spätburgunder GG . Der wirkte lebendiger, das Pflaumenmus wurde zum süßen Pflaumenkompott, er floß weich und voll über die Zunge, wurde im Abgang sehr kräftig, und die 14 Vol-% waren abermals meisterhaft versteckt. Noch kräftiger präsentierte sich der 2010 Ihringer Winklerberg Spätburgunder GG "Backöfele". Das "Backöfele" ist der Name eines alten Gewannes, das mit dem Deutschen Weingesetz 1971 zwar verschwand, aber nicht vergessen wurde. Gereift, ohne unbedingt auf dem Höhepunkt zu sein, sehr vollmundig und trotzdem leicht zu trinken. Fast keine Tannine mehr. Vorherrschende Noten von Kaffee und nassem Leder verdrängten die Frucht beinahe, machten den Wein tief, robust und komplex. Er war im Geviert der Großen Gewächse vom Spätburgunder die Wahl, denn die Zeit des 2009 Ihringer Winklerberg Spätburgunder GG "Roter Boden" ist fast um. Sehr trocken und immer noch pflaumenfruchtig ließ er seine einstige Wucht erahnen, aber schon drohte die unverkennbare Schärfe des Herbstlaubes. Ein ehrwürdiger Wein. Austrinken. Schließlich öffneten wir im Januar 2021 den 2014 Spätburgunder "Ihringen F5" als Begleitung von Trüffelnudeln, und im Handumdrehen spielten die Trüffelnudeln die Begleitung für den Wein. Typische Kaiserstühler Spitzenklasse, selbst aus mediokrem Jahrgang. Pflaumenduftig, kräuterwürzig, kraftvoll und seidenweich, legte sich süßfruchtig mit feinen Säurespitzen über den Gaumen. Staubtrockener, langer und voller Abgang. Trotz allem, was da auf Geist und Geschmacksknospen einstürmte, eher erfrischend als schwer.
Paßt die bekannte Schwere solcher Weine überhaupt zur Stiglerschen Leichtigkeit des Seins? Drei Versuche, und wir erklettern mit den Trockenbeerenauslesen gleich die Spitze der Kunst. Schon die 2013 Oberrotweil F1 Ruländer TBA mit ihren für das genre ungewöhnlichen 12 Vol-% Alkohol zeigt die Machart der Stiglerschen TBAs: durchgegoren, alkoholstark, aromatisch außergewöhnlich komplex und weit jenseits der üblichen Rumrosine. Im Ansturm auf die Sinne extrem, stilistisch voll, aber auf der Zunge klar definiert, transparent mit spürbarer Säure. Selbiges gilt für die 2013 Traminer TBA VDP.ErsteLage mit ihrer feinen mineralischen Note, aromatisch überbordende Frucht, etwas weicher als die Ruländer TBA, fließt sanfter als Seide über die Zunge und besitzt Potential für viele Jahre der Lagerung. Das Extrem stellt die 1996 Müller-Thurgau TBA dar, eine Erinnerung an längst gerodete Bestände und, seltsam aber wahr: ein preis-werter Wein. Im Duft reine Bourbonvanille, die Bitterkeit von Walnußhaut, im Mund ein flüssiges Karamellbonbon und die Welt kandierter Südfrüchte. Stilistisch extrem dicht, eine Glycerinbombe, ein Zuckerteppich (nicht ohne Säurespitzen), ein Wein zum Kauen. In dieser Art selten erlebt. Besondere, köstliche Süßweine - sicherlich die besten des Kaiserstuhls.