LW über...

14 März 2024

The rise and fall and rise of Scheurebe

Es fängt schlecht an, wenn nicht mal der Name so ganz klar ist. Alzey 1916, im zweiten Kriegsjahr an der "Rebschule der Landwirtschaftskammer der Provinz Rheinhessen", nur ungefähr 200 km von der Front entfernt, war der 88. Versuch der Kreuzung von Riesling und Silvaner dem Züchter Justus Georg Scheu endlich geglückt. Das Ergebnis wurde knapp „Sämling 88“ genannt, später aber immer beliebiger „S-88“ oder „Scheu 88“ oder „Alzey 88“, oder „Scheus Liebling“ oder „Scheu-Riesling“ und so weiter, jedenfalls nicht "Scheurebe", weil Georg Scheu zeitlebens seinen Nachnamen nicht mit dieser Züchtung verbunden wissen wollte. Für Klarheit sorgten erst die Nationalsozialisten, die die namenlose Züchtung kurzum nach dem Hessen-Nassauischen Landesbauernführer Dr. Richard Wagner benannten: die „Wagner-Rebe“ war geboren, sie wurde aus bekanntem Grund jedoch nur rund neun Jahre alt. Mit dem Tod Georg Scheus im Jahre 1949 wurde die Neuzüchtung ein Jahr später dann doch nach Justus Scheu benannt. Den Begriff “Sämling 88“ findet man nur noch in Österreich.

1956 wurde Scheurebe ins Bundessortenregister aufgenommen, somit für den breiten Anbau zugelassen und trat ihren Siegeszug an. Aber schwere Jahre kamen auf den deutschen Wein zu. Ein dank Wirtschaftswunder zunehmend kaufkräftiges Publikum, konsum- und zuckersüchtig nach der Katastrophe der Kriegsjahre, war eher an Masse interessiert denn an Qualität, und da kamen alkoholsatte, restsüße Weine - zum Beispiel aus Kerner, Müller-Thurgau oder eben der Scheurebe - genau richtig, gefördert von profitgeiler Weinindustrie und korrupter Politik. Es waren die Jahre, in denen "Scheurebe" zum Synonym für drittklassig-dickflüssig klebrig-süße, uringelbe „Spätlesen“, zum Gespött, ja zum Schimpfwort wurde. Vielleicht tranken Leute, die sich zuhause vom Großhandelsvertreter besoffen quatschen ließen, Scheurebe, aber gewiß nicht Weinkenner. Von solchem Image kommt eine Rebsorte kaum wieder weg.

Aber in den neunziger Jahren auf der Suche nach Neuem, nach etwas Anderem als Riesling und weißen Burgundern, spulten einige rheinhessische und Pfälzer Winzer das Programm der Qualitätssteigerung ab. Mit Erfolg, kann man heute sagen, und der Gastgeber macht sich längst nicht mehr zum Gespött, vorausgesetzt, er spielt mutig die süße Karte und läßt trockene Weine beiseite (ganz ähnlich wie bei Müller-Thurgau). Dann punktet Scheurebe mit Sauvignon blanc-ähnlicher Aromatik, schwarzer Johannisbeere, weißem Pfeffer sowie feinem Säuregerüst. Und spottbillig ist der Wein natürlich (siehe Imageproblem - ganz ähnlich wie bei Müller-Thurgau).

Wie war das: Kreuzung von Riesling und Silvaner? Scheu glaubte das damals, heute glaubt man, daß er in seinem Labor etwas verwechselte. Die DNA-Analyse identifizierte die Buketttraube aus grünem Silvaner und Trollinger, eine alte Züchtung der Winzerfamilie Englert im fränkischen Städtchen Randersacker, als Rieslingpartner (Georg Scheu selbst übrigens bestritt, daß die Buketttraube für Züchtungszwecke geeignet sei). Unbekannt, wie man öfters liest, ist der Kreuzungspartner also keinesfalls - unbekannt höchstens dem jeweiligen Autoren - und es war auch keine mysteriöse „Wildrebe“.

Wie auch immer: selbst die neueste Ausgabe des „Kleinen Johnson“ watschelt der Ente von Riesling und Silvaner hinterher (was nur beweist, daß der „Kleine“ eben doch nicht jedes Jahr überarbeitet wird), der „Große Johnson“ kennt Scheurebe gar nicht, Robert Parker, warum sollte man ihn überhaupt lesen, und Jancis Robinson interessieren nur Burgunder. Damit hat Scheurebe keine Chance, jemals zur haute joaillerie der Weinwelt zu zählen. Für den Konsumenten kann das nur zum Vorteil sein.

Wir haben nach vielen Jahren der Beschäftigung mit der Scheurebe immer noch den Eindruck, daß ihre Weine - im Gegensatz zu Muskateller, Gewürztraminer oder Gutedel - ihren Platz an der Tafel suchen (ganz ähnlich wie bei Müller-Thurgau). Die Scheurebe mag in Südafrika im Moment einen Boom erleben, sie als „Trendsetter“ zu bezeichnen, wie wir kürzlich lasen, ist blanker Unsinn. Trotzdem: nur Mut! Seinen Gäste wird man einen Aha-Effekt bescheren und sich selbst genussvolle Momente mit einem Hauch deutscher Weingeschichte (ganz ähnlich wie bei - ja, genau).

10 Juli 2023

Terrassenweine

Angesichts hochsommerlicher Temperaturen nehmen wir von unserem Plädoyer für den "Terrassenwein" aus 2011 nichts weg, sondern rufen es hiermit in Erinnerung:

"Terrassenwein"... inhaltsleeres Schlagwort, für uns nur in Anführungszeichen erträglich. Werbeblase für schwächlich-körperlose Weiße, Füllmaterial für Bowle. Das alles wird der Klasse jener Weine, die zum sommerlichen Vor- oder Nachmittag auf der Terrasse gehören, nicht gerecht. Die Anforderungen an sie sind genauso hoch wie an Weine, die man nicht zu dieser Kategorie zählen würde, sie stellen sich nur anders dar. Der "Terrassenwein" muß höheren Umgebungstemperaturen standhalten. Er wird kühl serviert, womit die meisten Rotweine ausscheiden. Zurückhaltung bei den Tanninen, sie würden das Aroma nur verkleben. Er benötigt Säure, um frisch zu wirken und Volumen zu schaffen - damit scheidet auch der Durchschnittstrollinger aus - , Säure allein zaubert aber noch keinen "Terrassenwein" ins Glas. Also müssen starke Aromen her, damit der Wein nicht bloß beißt. Vorwiegend frische, grüne dürfen ins Glas, aber keine Eiche. Zu Fruchtiges ermüdet, Mineralisches strengt an, Animalisches stößt ab. Glyzerin- und Alkoholgehalte sollten moderat sein, damit der Wein nicht fett wirkt und man nicht nach einem Glas hinüber ist. Um die zehn Volumenprozent halten wir für das Maximum. Da Alkohol jedoch Aromen hervorhebt und der Wein nicht unterernährt wirken soll, ist hier der nächste Balanceakt nötig. Außerdem muß er zur Auseinandersetzung, zur Erforschung einladen, darf aber nie anstrengend sein. Welcher Wein hält diesen Forderungen schon stand!

Und heute geben wir gleich Antworten mit: Riesling natürlich. Der hakt alle Checkboxen ab, das Angebot exzellenter Weine ist, zumal in Deutschland und Österreich - hier darf es auch Veltliner sein -, kaum zu überblicken und das Preisniveau zumeist eine Schande.

Oder Kerner - oh Schreck - , diese geschmähte und inzwischen schwer zu findende Sorte, die, wie Heiner Lobenberg zu Recht sagt: "durch ihre frische, duftige Aromatik besonders vielseitig ist und vom Aperitif bis hin zu Vorspeisen alles kann".

19 November 2022

Farbenleere

Als wir vor ungefähr zehn Jahren überlegten, wie wir unsere Weinkritiken systematisieren wollen, waren die Kategorien Duft und Geschmack gesetzt. Sonst noch was? Alle schreiben und reden von der Weinfarbe, wir nicht. Warum?

Wie wir hören, ermitteln ernsthafte Briefmarkensammler die Farben ihrer Lieblinge stets bei Sonnenlicht - nie bei Kunstlicht - und ziehen Vergleichsmaterial und seitenlange Farbskalen hinzu. Wie sonst den Unterschied von "mittel- bis lebhaftlilarot, lilarot, rosa bis dunkelkarmin, dunkelkarminrot (blutrot), mittel- bis lebhaftrotkarmin und eosinrosa" ein und derselben Marke erkennen und nicht den Verstand verlieren (Beispiel: 10 Pfg Freimarke Deutsches Reich 1875, zitiert aus Michel-Katalog Deutschland Spezial, München 2020).

In der Weinkritik verfügen wir nicht über Farbskalen (bestenfalls über bunte Aromaräder), entsprechend beliebig fallen Form und Inhalt jener Farbbeschreibungen aus. Wem nützen Beschreibungen wie folgende, der aktuellen Fachpresse entnommen:

„Spinell“: Mineral, als Farbe eines Spätburgunders beschrieben. Verbindung von Magnesium und Aluminium, zumeist von roter Farbe, leider auch in Blau-, Grün- und Gelbtönen sowie Kristallweiß, Silber und allerlei Grau bis hin zu tiefem Schwarz vorkommend. Selten ein weniger geeignetes Beispiel in der Weinbeschreibung gelesen. Aber wenn sowieso keiner recht weiß, was "Spinell" ist, mogelt man sich vielleicht doch durch.

„Seladon“: als „Akzent eines hellen Grauburgunders zum Rand des Glases hin“, als ob außerhalb der Chemiker- und Kunstsammler-Fraktionen irgendjemand wüsste, worum es hier geht. Ebenso sei dahingestellt, ob die blassgrünliche Eisenoxidreduktion auch nur annähernd geeignet ist, Wein zu beschreiben.

„Mittleres Gelb mit hellem Glanz“: oh Captain, my Captain.

„Grüngelbe Reflexe“ eines Rieslings: was wird wovon reflektiert und mit welcher Farbtemperatur - eher grün oder doch eher gelb? Hat Glas keine Eigenfarbe? Alles zu kompliziert? Wozu dann das Theater.

Und so weiter und so fort. Zugegeben: relevant wird die Farbe bei Rot- oder Gelbtönen, die eventuell Schlüsse auf Ausbau und Reife zulassen - auf mehr auch nicht, schon gar nicht auf Qualität - und natürlich bei Fehlern und Verfall wie dem berüchtigten Blauwerden (des Weines, nicht des Konsumenten) oder dem "Pinking".

Das prätentiöse Farb-Brimborium der Weinkritik ist schönes Beispiel für die Phantasielosigkeit vieler Kritiker und deren Wichtigtuerei. Seriös gemacht und nicht wichtigtuerisch könnte es idealerweise den ästhetischen Lesegenuß erhöhen und beim Leser Vorfreude schaffen. Wir hoffen das mit unseren Beschreibungen jedoch besser zu tun. Im übrigen wies schon Goethe in seiner Abhandlung "Zur Farbenlehre" auf die Subjektivität jeder Farbwahrnehmung hin. Deswegen verzichten wir weiterhin auf Farbenleere (sic!).

19 August 2022

Verweilverbotszone

Freitagabends gegen 22 Uhr auf dem Nachhauseweg einen Schlenker über die diesjährige Ludwigsburger "Weinlaube" gemacht, angelockt von ohrenbetäubendem Lärm. Inzwischen fast dunkel, immer noch unangenehm warm, etwas schwül. Keine idealen Bedingungen für Alkoholmißbrauch. Wir bleiben stehen, ziehen uns vorsichtshalber ins Dunkel zurück - um den leeren Flaschen auszuweichen, die hin und wieder fliegen, und den Blicken aus blutunterlaufenen Augen irgendwelcher "Genießer" vor dem Kollaps. Im Gebüsch übergibt sich jemand.

Wo ist die "Verweilverbotszone", wenn man sie mal braucht.

24 Dezember 2021

Alkoholismus

Hochglanz-Weinmagazine umsegeln das Thema Alkoholismus weiträumig. Was hat es dort auch zu suchen, außer den Spaß an der Sache zu verderben. Es will einfach nicht zum landläufigen Genießer- und Gewinner-Klischee des kultivierten "Weinkenners" passen. Dem Alkoholkranken haftet das "loser"-Image an: Kontrollverlust, schwach, unappetitlich, und der Abstieg ins Obdachlosenmilieu steht kurz bevor. Uns scheint, Kokainmißbrauch ist in unserer Hochleistungsgesellschaft viel akzeptierter. Schnee wirkt ja auch ästhetischer als Erbrochenes. Also - bitte immer wegschauen:

Schon morgens ein Gläschen in kleinen Schlucken? Ganz langsam und diskret? Dann weiter so bis abends - gleich ob aus Langeweile oder des sozialen Drucks wegen („stell Dich nicht so an, Du Spielverderber..."). Zunächst noch verschämt vor Familie oder Kollegen, dann im Laufe des Tages oder der Monate immer öfter und hastiger, bis es irgendwann auch egal ist, wenn die Haut wie bei Rauchern alt und fahl wurde, das Gesicht den Ausdruck des Scheiterns angenommen hat und aus dem vielleicht ganz umgänglichen Zeitgenossen ein egozentrischer Psychopath geworden ist, ein "Schwarzfahrer im eigenen Körper" (V. Despentes)? Man mariniert sein Hirn eben nicht jahrelang in Alkohol, ohne dass irgendwann die Sicherungen schmelzen. Das hat nichts mit dem Geldbeutel zu tun. Ob Weinbrandfläschchen an der Supermarktkasse im Zwölferkarton oder beispielsweise 1975er Ch. Belair aus der Zwölferkiste: beides ist der Alpha- bis Epsilon-Karriere ungemein förderlich. Und im Gegensatz zu Kokain ist der Stoff jederzeit und legal verfügbar: man muß nicht alle paar Stunden seinem schmierigen Dealer simsen oder die Afrikaner im Görlitzer Park anbetteln. Und dann, wenn jeder Gedanke nur am nächsten Schluck hängt und jeder Rest an Konzentration darauf verschwendet wird, sich und die Welt anzulügen, bis schließlich weder der halbjährliche Entzug noch die treuesten Co-Alkoholiker helfen und das eigene Dasein zwischen Täuschung und vollkommener Nutzlosigkeit taumelt, kann man nur noch hoffen, daß einem ein paar wahre Freunde geblieben sind.

Wir propagieren den bewußten, verantwortungsvollen und (siehe oben) erwachsenen Genuß. Anders ist "Genuß" gar nicht zu definieren, und anders ist Wein, dieses Getränk, das sich wie kaum ein anderes dem bloßen Konsum entzieht, nicht denkbar. Genau so wollen wir unsere Seite und unsere Weinkritiken verstanden wissen.

06 April 2021

The ultimate guide to online-tasting

Erlebnisweinwelt zweipunktnull. Wir betreten neues Terrain, die Lage zwingt dazu. Im zweiten COVID-Jahr arrangieren sich Weingüter zunehmend mit der Situation und veranstalten Weinverkostungen via Internet. Die Mutigen laden zur Webkonferenz und versuchen, allen technischen und menschlichen Widrigkeiten zum Trotz, Konversation zustandezubringen ("Haben Sie Fragen?") und die Veranstaltung nicht zur Vorlesung werden zu lassen. Ihnen gilt unser Respekt. Andere werden zu "Youtubern", wenn die angepeilte Zielgruppe zu groß für eine Konferenzsoftware ist und die halbwegs geordnete Kommunikation nicht mehr möglich wäre. Sie müssen auf Basis einer mehr oder minder gelungenen Choreographie ein Programm abspulen, und wir Konsumenten lehnen uns zurück wie weiland unsere Großeltern bei Kulenkampff.

Hier einige ernstgemeinte Hinweise für des Winzers nächstes Online-Event - alles gar nicht schwer.

04 November 2020

Glassplitter

Die wichtigste Frage überhaupt, zumindest wenn man nur noch Luxusprobleme hat? Nicht ganz. Einige Jahre der Beschäftigung mit Wein hatte es gedauert, bis wir - frei nach William von Baskerville - lernten, daß ohne Form der Inhalt nicht sein kann. So wurden eines Tages auch wir mit Nase und Gaumen in das Thema gestoßen und wollen seither nicht mehr hinaus.

Zum Feature Auf der Jagd nach der perfekten Form

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22 August 2020

Lohnschreiber

Einmal mehr war Franz Keller der Vorreiter. Mit seiner "Edition Fritz Keller" wirbelte er ab 2007 die im achtziger Jahre Desaster klebengebliebene Discounterweinszene gehörig durcheinander, auch dreizehn Jahre später offensichtlich immer noch ein Erfolg für ihn und die Aldi-Gruppe. Jahre der aufmerksamen Beobachtung gingen ins Land, bis andere Handelsketten das Rezept kopierten. So bietet zum Beispiel Rewe - allerdings nicht häufig zu findende - Weine aus einer Kooperation mit der Bingener Großkellerei Reh-Kendermann an. Edeka rief vor Kurzem (trotz eigener Kellerei, ebenfalls in Bingen) die Weinserie "Junior" zusammen mit dem Kiedricher Rieslingspezialisten Robert Weil ins Leben. Und nochmals Aldi kooperiert seit 2018 mit dem Rüdesheimer Weingut Leitz.

Wir probieren solche Weine selten, auch wenn wir Fritz Kellers Initiative, dem Discounter-Publikum etwas Anspruchsvolles nahezubringen, ausdrücklich begrüßen. Ärgerlich wird das Ganze, wenn die Marketingmaschinerie anzulaufen beginnt - in Gestalt allgegenwärtiger Lohnschreiber mit oder ohne "MW", die mit ihrem ebenso blumig-blöden und nichtssagenden Verkostungsjargon im Auftrag der Handelshäuser und für klingende Münze Drittklassiges in Richtung Grand Cru uminterpretieren.

Neulich hatten wir das zweifelhafte Vergnügen eines "Junior Unique" Chardonnay (mehr dazu in unserer Hitliste Chardonnay). Die bezahlten "Fachleute" verbogen sich in ihren "Kritiken" bis es quietschte, um mit Phrasenkoprolithen (A. Schmidt) á la "eindrucksstark", "an den Petit Chablis" erinnernd, "ausgewogen", "säurehaltig" (siehe da), "moderner und freigiebiger Typ", der "großzügig Aromen verteilt", aus diesem Mittelmaß etwas Bedeutendes zu keltern. Goldmünzen gab es irgendwo auch. Wir vermuten, daß insgeheim Köpfe geschüttelt wurden.

Das Problem geht viel tiefer. Sollen Weingärtner sich und ihre Trauben ruhig an Großkellereien verkaufen. Das Weingut, das sich mit dem Discounter einläßt, seien es Cash & Carry oder das zu Hawesko gehörende "Jacques` Weindepot" und so fort, reitet auf einem schmalen Grat, ja es setzt seinen Ruf aufs Spiel. Kein Discounter leistet sich Rücksicht auf jenes fragile Kunstprodukt namens Wein, sondern er will Masse vertreiben und fordert Masse von seinen Lieferanten. Wie das mit Jahrgangsschwankungen, Biodynamik, Ertragsbeschränkung, Beerenselektion, teurer Kellerarbeit et cetera zusammengeht? Gar nicht, und die Qualität bleibt auf der Strecke. Wie aber kommen dann oben genannte überschwängliche Bewertungen zustande?

Money makes the world go round...

22 Juli 2019

Weinjournalismus

Nein, liebe „ntv“-Redaktion, Euren Artikel vom 27. April 2019 vergessen wir nicht. Es nützt im digital age ja nichts, Machwerke klammheimlich aus dem Netz zu nehmen und zu hoffen, niemand habe was gemerkt. Wäre das hier prinzipiell zu begrüßen, dient der Artikel wenigstens als Beispiel für die Misere des heutigen (Wein-)Journalismus.

Aus ungeklärter Ursache gab sich die erstklassige Pfälzer Winzerin Adriane Moll für ein Interview mit einer unterbezahlten und/oder untermotivierten Azubine her, die völlig unbelastet von vinologischer oder gar journalistischer Vorbildung war und der außerdem jeder Sinn für Satire abging. Heute will Adriane Moll nichts mehr von der Geschichte wissen, und recht hat sie! Einige Bonmots gefällig?

„Winzer geben tiefe Einblicke“, und unter dieser phantasievollen Zeile, die zum Standard jedes „Weinjournalisten“ gehören sollte, prangte auf der ntv-Website ein Foto der ja nun wirklich attraktiven Adriane Moll mit etwas ausgeschnittener Bluse. Wir haben jetzt die Wahl: verlogener Sexismus oder tumbe Gedankenlosigkeit von Autor und Layouter. Pest oder Cholera?

Mit der kategorischen Aussage: „Das macht einen guten Wein aus“ geht es dann brutal zur Sache: „Winzerin Adriane Moll erkennt schlechten Wein sofort“, und das beruhigt erst einmal.

Im Folgenden wird im Artikel andauernd über „guten“ und „schlechten“ Wein geraunt, aber anstatt das vollmundige Versprechen des Titels einzulösen, nämlich zu klären, was „guten“ Wein konkret ausmacht, bleibt man sicherheitshalber im Seichten und stellt Fragen statt Antworten zu geben:

"Kann man schon am Etikett die Qualität des Weins erkennen?"

Dochdoch. Wie wäre es, mit „Kabinett“, „Eiswein“, „Trockenbeerenauslese“ und so weiter, wenn man schon keinen tieferen Begriff von „Qualität“ hat?

Dann aber kommen Ratschläge fürs Leben: „Ein guter Wein kann so manchen Abend mit einem leckeren Essen verschönern“. Wie der Wein das mit dem leckeren Essen hinbekommt, ist uns genauso unklar, wie der Schreiberin der Unterschied zwischen Tätigkeits- und Leideform, wobei: manche helle Soßen, die echte Bolognese oder die burgundische Küche wären ohne einen kräftigen Schuß undenkbar - LW-Leser wissen: eine Flasche in den Topf, die zweite auf den Tisch. Ob unser Schreiberling dies oder irgendetwas anderes in diesem „Artikel“ überblickt, bezweifeln wir jedoch.

„Wie bei allen Dingen im Leben ist die Auswahl des Weins natürlich stark an den persönlichen Geschmack gebunden“. Natürlich, und diese Perle des Investigativjournalismus erinnert uns an den immergrünen Vers aus der „Süddeutschen“: „Wein ist nicht gleich Wein“. Ansonsten vermittelt dieser Satz mit seinem "Dingen" - ein schönes Wort, Adalbert Stifter benutzte es auch andauernd, wenn er nicht weiterwußte - dermaßen inhaltliche Leere, wäre er gedruckt, wir müßten mit Dennis Scheck fragen: „Oh grüner Baum, warum mußtest Du für dieses Buch sterben?“.

Weiter - wir sind heute erbarmungslos: „Für viele Menschen gestaltet sich die Auswahl des passenden Weins allerdings schwierig, da sie nicht wissen, worin sich gute Weine von schlechten unterscheiden.“ Nun, fürs erste könnte man den Wein einfach mal probieren. Ob Hugh Johnson, Robert Parker oder LW ihn irgendwann als „gut“ oder „schlecht“ einordneten, ist zweitrangig, wenn er einfach nur schmeckt. Kriterien für ein „gut“ oder „schlecht“ kann man dann immer noch irgendwo nachlesen - besser nicht bei der ntv-Redaktion - oder ganz einfach für sich selbst festlegen.

Ein Letztes. „Weinexperten können weniger gute Tropfen schon am Geruch oder am Aussehen…“, nein, wir brechen hier ab und lassen die ntv-Azubine woanders weiterüben (wie wäre es mit einem Artikel über den Klimawandel).

Abschließend unser Gruß an ntv, immer gerne mit Arno Schmidt: „Möge Ihre Wasserspülung stets funktionieren“.