Wein - ein Geschenk der Natur

Um diesen Weinversand-Slogan ernstzunehmen, muß man Weine aus der Zeit vor der Phylloxera-Katastrophe um 1860 trinken (und auch damals wurde einem Weinbauer kaum etwas geschenkt). Denn nachdem die aus den Vereinigten Staaten eingeschleppte Reblaus der europäischen Weinrebe Vitis vinifera fast den Garaus gemacht hatte, versuchte man V. vinifera ebenso schädlingsresistent zu machen wie amerikanische und asiatische Vitis-Sorten es waren. Das Propfen empfindlicher Reben auf robuste amerikanische oder asiatische Unterlagen war eine Lösung. Heute sind fast alle europäischen Reben Pfropfreben; wurzelechte Reben kommen noch vor, manchmal werden sie in vergessenen Winkeln alter Weinberge entdeckt. Glücklicherweise scheint das Propfen die Sortencharakteristik kaum zu verändern. Einen Wein als “wurzelecht” zu bewerben und damit Qualitätsvorsprung zu suggerieren, ist Unsinn.

Die Erzeugung von Interspezifischen Rebsorten oder Hybriden aus selektierten Mutter- und Vatersorten war der zweite Weg aus der Reblaus-Epidemie. Und da Frankreich am meisten darunter litt (vor 1860 gab es im Bordelais mehr als 1000 Rebsorten, ab etwa 1880 noch sechs), wurden dort die umfangreichsten Kreuzungsversuche unternommen. V. vinifera-Sorten wurden untereinander und mit V. aestivalis, V. amurensis, V. berlandieri, V. cinerea, V. labrusca, V. lincecumii, V. riparia oder V. rupestris gekreuzt, um Sorten zu erhalten, die gegen Wurzelreblaus und andere Widrigkeiten unempfindlicher sind als V. vinifera selbst, aber hoffentlich die Aromatik wahren. Der französische Arzt Albert Seibel zum Beispiel erzeugte zwischen 1886 und 1936 rund 16000 Hybridsorten (sogenannte Seibelreben), von denen die meisten aber zu Hauswein oder Traubensaft verarbeitet wurden und nur wenige ihren Weg in den Markt fanden.

Längst ist die Verwendung von Hybriden für Qualitätsweine in der Europäischen Union verboten, in Frankreich schon seit 1936. Die Gründe dafür sind vielfältig und manchmal nebulös: die eigentümliche Geschmackswelt der exotischen Vitis-Arten (Foxton, teils extreme Süße oder starke Säure), ihre schlechte Wirtschaftlichkeit (kleine Beeren, dicke Schale, kaum Fruchtfleisch), genetische Instabilität der Hybriden, angebliche Bildung gesundheitsschädlicher Mengen von Histaminen und höheren Alkoholen während der Gärung, erfolgreiche Lobbyarbeit der Agrarchemie in Brüssel. Kleinste Bestände einzelner Sorten findet man, wo Weine unterhalb der Stufe Qualitätswein erzeugt werden. So besteht zum Beispiel der burgenländische Uhudler aus amerikanischen Vitis-Sorten, sein fast aufdringlicher Erdbeerton aus V. labrusca ist unverkennbar. In der Südschweiz, präziser: im Tessin und Misox kann man Tafeltrauben und Grappa aus der tiefroten "Americana" finden, die auf V. labrusca und V. rupestris zurückgeht.

In England, im Nordosten der USA und in Kanada, wo V. vinifera am kühl-feuchten Klima gescheitert ist und man sich nicht um EU-Recht schert, werden nach wie vor amerikanisch-asiatische Vitis-Sorten und Hybriden angebaut und weiterentwickelt. Ein Beispiel: aus einer Kreuzung von Chancellor mit der Hybride NY33277 entstand die Sorte NY65.0467.08, die ihrerseits mit Steuben gekreuzt wurde. Daraus ging die 2006 vorgestellte Sorte "Noiret" hervor, die unseres Wissens 2012 von einem Weingut in Portland, New York zum ersten Mal gekeltert wurde. Aber auch in Europa bilden die Hybriden von Seibel, Seyve-Villard, Ganzin und anderen Züchtern zusammen mit den Wildreben immer noch die Basis moderner interspezifischer Mehrfachkreuzungen, teils zurück bis in die siebte und achte Generation. Wer also den Freiburger Solaris trinkt, hat sozusagen auch Couderc 132-11, Seibel 405 und V. rupestris im Glas. Zur Verdeutlichung hier der vollständige Stammbaum des Prior.

Neuzüchtungen haben in Deutschland einen schlechten Ruf, und man tat in Form banaler, aber wirtschaftlicher Massenträger wie Ortega, Siegerrebe oder Dornfelder alles, um dem gerecht zu werden. Natürlich sind manche dieser Züchtungen auch Ergebnis des Kampfes gegen andere Schädlinge wie Mehltau, Heu- oder Sauerwurm, in deren Auswirkungen ebenso fatal wie die Reblaus. Nicht zuletzt spielt gerade in nördlichen Anbaugebieten auch Frostresistenz eine zentrale Rolle. Nun ist die Geschmackswelt vieler Neuzüchtungen entweder langweilig-einseitig, oder die Weine sind in ihrem Duft- und Geschmacksdesign völlig überladen - sehr wenige gelungene wie Valentin Blattners Cabernet blanc, Pinotin oder Cabertin ausgenommen. Da Neuzüchtungen in der Regel aber früh reifen, bieten sie die Möglichkeit, bei geeigneter Witterung den Alkoholgehalt auszureizen und so Geschmacksdefizite zuzudecken: eine für den Massenmarkt wichtige Eigenschaft. Es ist bittere Ironie der Natur, daß im Sommer 2014 ausgerechnet Neuzüchtungen zuerst der Kirschessigfliege zum Opfer fielen (so die LVWO Weinsberg in einem Papier vom 21.10.2014). Aber natürlich werden sie weiter vordringen - je kühler und feuchter unsere Sommer werden.