Im Vergleich beispielsweise mit dem Anbaugebiet Mosel-Saar-Ruwer und den dortigen Riesling-Superstars geht das burgunderlastige Baden in der Rieslingszene etwas unter. Dabei ist die Gegend südlich von Baden-Baden bis ungefähr zum Ortenaukreis, wo der Riesling „Klingelberger“ heißt, dauernder Geheimtip für eigenständige Rieslinge. Vielleicht kokettiert Sven Nieger damit, wenn er seine Weine als „Underdogs“ bezeichnet. Das mag in punkto Bekanntheit zutreffen, was jedoch Qualität angeht, könnte man tiefer kaum stapeln. Niegers Rieslinge sind für die gehobene Gastronomie mit geschliffener Küche gemacht oder für gut bestückte Weinkeller von Haushalten, in denen man wenig convenience food findet: hochklassig und geradeaus.
Das Weingut Sven Nieger wuchs seit 2013 auf inzwischen immerhin 15 ha schwer zu bewirtschaftender Steillagen an, auf denen, ja genau: Riesling angebaut wird und wenig anderes, um das Angebot abwechslungsreicher zu gestalten. Das Programm ist in drei Linien unterteilt, die an eine Qualitätspyramide erinnern. Innerhalb dieser Linien wird es jedoch bunt: nach ein, zwei Flaschen Nieger-Riesling verschwimmt der Unterschied beispielsweise zwischen „Ungezähmt“, „Unbestechlich“, „Unbeschwert“ und so weiter völlig, und auch Lagenbezeichnungen sucht man vergebens, da alle Weine, um klugerweise der Weinbürokratie zu entgehen, schlicht als „Badischer Landwein“ klassifiziert sind. Zu allem Überfluß gibt es noch eine "Rebland"-Linie mit Weinen aus Weißburgunder, Grünem Veltliner, Sauvignon blanc sowie Spätburgunder für einen einzigen Rosé. Rotweinliebhaber gehen also woanders hin. Gebrannt oder versektet wird nicht.
Der 2019 Riesling "ungeschminkt" mag als Einstieg ins Programm dienen und gibt uns mit seiner schillernden aromatischen Intensität von weißen Blüten, Granny Smith, Grapefruit, etwas Honig und Bienenwachs eins auf die Nase. Im Mund nicht allzu süß oder gefällig, macht auch nicht den Eindruck, als lasse er sich von irgendwelchen Begleitern einfach vom Tisch drängen. Kein Holzausbau verdeckt die scharfe Riesling-Charakteristik, gelungene Spontanvergärung läßt keine fremden, geschweige denn unerwünschten Akzente in die Duft- und Geschmackswelt. Satter, zitrusfruchtiger Nachhall mit einer Note von Weihrauch. Ein Studienobjekt. Andere Winzer verleihen solchen Weinen den Titel "Pur".
Unserem Geschmack nach markiert der 2017 Riesling "Underdog" im Moment die Spitze des Programms. Im Frühjahr 2023 durchaus gereift, ohne daß das Ende der Reise in Sicht wäre. Kräuter wie Majoran und trockener Oregano, weiße Blüten, die Bitterkeit von Kiesel im Duft. Im Mund Zitrus, kräftige Säurespitzen, ein Hauch Honig, und sofort kommt uns das Bild eines Rockstars in den Sinn: schwieriger Typ, laut und unverschämt, nicht mit den allerbesten Manieren, aber spannende Gesellschaft. Der 2019er aus einem nassen Weinjahr ist dagegen eine Perle auf den zweiten Schluck. Karg, was gerade ein Riesling sein darf, wasserziehend, aromatisch ziert er sich noch und läßt die Zukunft nur erahnen. Im Jahrgangsvergleich fällt der 2020er natürlich noch weiter ab. 2023 wirkt dieser Wein noch verschlossen, hart, kantig und abweisend, aber er macht mit seinem immensen Potential Vorfreude - auf die Jahre 2026 fortfolgende.
Dann wird es ungeniert: 2020 Riesling "ungeniert" fruchtsüß, und dessen Duft schickt uns olfaktorisch in die ostasiatische Küche, so als öffneten wir einen dampfenden Reistopf. Im Mund süß, aber dezent und ausgewogen, und die Apfelfrucht stammt eher vom Boskop als dem Elstar. Feinste, verspielte Säure und trotzdem angenehm trocken. Unbedingt standhaft gegenüber beispielsweise Ingwer, Chili oder fermentiertem Pfeffer - und er ließ bei unserem Wok-Versuch trotzdem die empfindlichen Noten von Purpur-Basilikum und Kurkuma am Leben. Interessante Alternative zum für diesen Zweck prädestinierten Gewürztraminer.
Diese Sache mit dem "Orange-Wein"... Bei Matthias Höfflin schrieben wir seinerzeit über das Thema, inzwischen hört man nicht mehr so viel über diese exotische und doch uralte Weise der Weinbereitung. Massenkompatibel war Orange-Wine ohnehin nie: vergleichsweise teuer, seltsame Duft- und Geschmackswelt, nichts für Gelegenheitstrinker und erst recht nicht für Einsteiger. Sven Nieger kümmert das alles nicht mit seinem 2020 "UFO" Orangewein unfiltriert. Im Duft Akazienblüte und ihr Honig, oder mag es Agavendicksaft sein - man merkt: hier sind wieder Phantasie und Humor gefragt, auch wenn "UFO" uns recht zugänglich scheint. Im Mund dicht, kraftvoll, feine Schleifpapiersäure. Hustensaft, Zitrus, Wermut (Artemisia absinthium), lange anhaltend mit salzig-adstringierendem, später orangefruchtigem touch, dieser Wein erschlägt so ziemlich alles. Die Wahl als Begleiter der unprätentiösen Küche, ein Wein für Philosophen.
Wer sortenreine Typizität sucht, halte sich vom 2020 Sauvignon blanc besser fern. Der geht problemlos als Dessertwein durch, und die üblich grüne Pyrazin-Aromatik (Stachelbeere, Paprika, Gras, ...) läßt sich erahnen, ertrinkt jedoch im Restzucker. Deswegen abzulehnen? Keineswegs: fruchtig, stark, vollmundig, im Sommer 2023 mit feinen Säurespitzen, die bei aller Süße Volumen schenken und Frische wahren, und während mainstream-Sauvignon blanc aromatisch schnell erfriert, hält dieser hier energische Kühlung an einem schwül-warmen Sommerabend problemlos aus. Ziemlich sensationell der lange Nachhall, der irgendwann reife, zuckersüße Pfirsichfrucht zum Vorschein bringt. Ein untypischer Sauvignon blanc mit unerhörter Trinkgeschwindigkeit.
Schließlich der 2020 Rosé aus Spätburgunder: erdbeerduftig, etwas Camembert, im Mund die übliche Erdbeerfrucht. Viel interessanter seine animierend trockene und saftige Stilistik - intensiv, robust, durchaus säurestark, nicht zu süß und immer mit einem bitteren Akzent. Sehr langer, cremiger und rotfruchtiger Nachhall. Ein kompromißloser, ernstzunehmender Rosé, aber kompromißlos und ernstzunehmen sind Niegers Weine alle.