Die erste Begegnung mit dem Thema hatten wir am 12. April 2000 - lange bevor wir begannen, unsere Erfahrungen für Sie und uns aufzuschreiben. Ein alteingesessenes (soll heißen: gibts heute nicht mehr) Ludwigsburger Haushaltswarengeschäft lud zur „Glasprobe“ oder besser: war Gastgeber für die Kufsteiner Glaswarenmanufaktur Riedel, von der wir zwar gehört hatten, uns aber ausgerechnet für Weingläser kaum weiter interessierten. „Römer“ und diese von den Großeltern ererbten, bunten Kristallgläser ließen wir nie auch nur in die Nähe unserer Weine, aber natürlich benutzten wir kleinere Gläser für Weiße und große für den Rest – ohne uns um Markennamen zu kümmern. Am bequemsten waren sowieso Uni-Größen mit Rollrand, wie man sie als Eintrittskarte für zum Beispiel Graf Adelmanns Weinproben auch heute noch erstehen kann oder muß.
An jenem sonnigen Spätnachmittag im April also öffnete ein Riedel-Vertreter seine Alubox mit sechs unterschiedlich geformten Gläsern, angefangen vom schön geschliffenen Weißweinglas „Laudon“ (gibts heute auch nicht mehr) von der Art, die man eher an der Tafel Josephine Beauharnais` vermuten würde, wie sie ihren geschnorrten Ruinart daraus schlürft, und fünf weiteren Riedel-Gläsern aus der „Sommelier“-Serie, den Weißweingläsern "Montrachet" und "Loire" und drei Gläsern für Rotwein - "Chianti Classico", "Bourgogne Grand Cru" und das berüchtigte goldfishbowl "Bordeaux Grand Cru". In diesen sechs Gläsern wurden nun fünf Weine, keine Ahnung warum fünf, abwechselnd serviert, sodaß man den Einfluß jedes Glases, jeder Glasformung auf die Duft- und Geschmackswelt jeden Weines miteinander vergleichen konnte. Die Stars:
Dazu gab es eine Tischvorlage, auf der die vier Geschmackszonen der Zunge erläutert wurden (die fünfte kannte man damals wohl noch nicht). Frappierend, wie die Glasform Duft- und Geschmackswelt, aber auch Kraft, Körper, Struktur der Weine bis hin zu Intensität und Dauer ihres Nachhalls bestimmte. Je nach Form umspülte die Flüssigkeit unterschiedliche Geschmackszonen und aktivierte unterschiedliche Geschmacksknospen. Erwartungsgemäß spielte das „Laudon“ mit seiner Wasserbecher-Anmutung die Rolle der Sau unter den Perlen. Ebenso frappierend war die anschließend verteilte Liste verfügbarer Gläser für alle denkbaren Rebsorten bis hin zu Mourvedre (den niemand kannte) oder Macharten wie Ausbruch (was niemand kannte). Das Riedel-Marketing ließ nicht ansatzweise die Fragen aufkommen, woher mit dem Geld und wohin mit all den Gläsern. Letzteres Problem erledigte sich bei den "Bordeaux Grand Cru" öfters von selbst. Selten überlebte eines das Abwaschen, Geschirrspüler war tabu, und mit nass-glitschigen und überdies zittrigen Händen versuchte man, den monströsen Kelch sauber, ansatzweise trocken und (natürlich mit einem Riedel-Mikrofasertuch) fleckenfrei zu bekommen und hielt allzuoft plötzlich den Stil ohne Kelch oder vice versa in der Hand. Wieder fünfzig Euro dahin. Es dauerte einige Zeit, bis wir entdeckten, daß Riedels Programm einfache Gläser umfaßt, die gleichermaßen für Weiß- und Rotwein und sogar Schaumwein geeignet sind und die dennoch den Genuss auf eine neue Ebene heben.
Längst ist das Geheimwissen um das richtige Glas für kostbaren Wein im mainstream angekommen und damit entzaubert. Wenn man es ernst meint mit dem Thema, kommt man an der Glasfrage nicht vorbei, und Riedel gebührt das Verdienst, das Erlebnis einem breiten Publikum erfahrbar gemacht zu haben. Das nur für eine einzige Rebsorte geeignete Spezialglas ist unserer Meinung nach aber eine Marketingmasche, die sich überlebt hat, nicht zuletzt wegen ihrer unsäglichen Dekadenz, die zuverlässig ins Lächerliche abgleitet: mit jedem neuen Wein werden die Gäste mit neuen Gläsern konfrontiert? Inzwischen tritt die Rebsorte in den Hintergrund. Fortschrittliche Glasmanufakturen verfeinern Formen und präsentieren sogar neue, oft seltsam anmutende, die aber tatsächlich hochwertigem Wein noch das Quentchen an Facette zu entlocken vermögen - und manchmal auch ein richtiges Quantum. Nur wird heute in schwere und leichte, spritzige und behäbige Weine differenziert, wobei die Sorte und damit die Frage: weiß oder rot berücksichtigt werden mag, aber nicht mehr entscheidend ist. Vielleicht wird das einem Wein als Ergebnis von Handwerk und Kunst gerechter, weil es ihn in seiner Gesamtheit vermittelt und ihn nicht schroff in aromatische Bestandteile seziert. Wir benutzen - oft parallel für denselben Wein - Gläser der Josephinenhütte, von Riedel und von Zieher - und wählen im Zweifel stets das größere Volumen. Aber um es klar zu sagen: auch das ideale Glas wird aus drittklassigem Stoff nichts Bemerkenswertes zaubern.
Nur für Süßweine (wie zum Beispiel Ausbruch) machen wir mit Riedels „Sommelier Sauternes“ eine Ausnahme. Ehrlich gesagt nur deshalb, weil das „Sauternes“ ein so schönes Beispiel für die hohe Kunst der Glasbläserei ist. Für anderen Firlefanz haben wir weder Platz noch Geld. Zum Beispiel nicht für die in letzter Zeit wieder hochgejubelten "stiellosen" Gläser, deren Vorteil, beim Picknick nur selten umzufallen, ihre zahlreichen Nachteile nicht aufwiegen. Und auch wenn der blog „Captain Cork“ sie vor Kurzem wieder ins Licht rückte: Sektschalen gehören in „The Great Gatsby“-Verfilmungen oder ins Wohnzimmer der Sechziger („Henkell trocken“ zu russischen Eiern). Wir finden, daß Sekte und Champagner darin flach, nicht konzentriert wirken, zu schnell warm und müde werden. Flöten halten wir für geeigneter, und hin und wieder benutzen wir sogar welche, nur um für hervorragenden Winzersekt und Champagner regelmäßig zum guten (Weißwein-)glas zurückzukehren.
Zusammengefaßt: Weinliebhaber leben in herrlichen Zeiten. Nie zuvor war das Weinangebot so hochwertig, so ungeheuer vielfältig. Dabei ist man mit zwei Glasformen – Schaumwein mag dazukommen oder auch nicht – für jede Entdeckungsreise gerüstet. Schwerer machen muß man es sich heute nicht mehr.