Tatsächlich soll es Betriebe geben, deren Anbaufläche eintausend Hektar übersteigt, und die trotzdem nichts Anspruchsvolles hinbekommen. Und es gibt welche, die um die zwei ha bewirtschaften und trotzdem (oder deswegen?) Bemerkenswertes zaubern. Hier haben wir eines:
Gegründet Anfang der achtziger Jahre, zweieinhalb ha in Bewirtschaftung der Familie, vorrangig Pinot noir, marketingmäßig völlig unter dem Radar, soweit die Rahmendaten. Beim Blick auf die Preisliste mag der Atem stocken: nur neun Positionen mit saftiger Preisgestaltung? Nun würden Privatweingüter beim Preisdumping ohnehin nur verlieren: auch im Kaiserstuhl gab es Betriebe, die preisgünstig anboten und in Konsequenz über die Klinge sprangen. Also kalkulieren die Hermanns lieber selbstbewußt. Die Liste umfaßt einen Sauvignon blanc, Chardonnay und einige Pinot Noirs aus burgundischen Klonen, aufwendig ausgebaut, lange gereift, geschmacklich so konzentriert wie das kleine Programm, und plötzlich werden hochpreisige Weine preiswert. Sie sind definitiv nichts für Einsteiger und auch nichts für jene Genießer, die mit burgundischem Stil wenig anfangen können.
"Oratio" ist Hermanns Basislinie auf einem Niveau, an dem viele andere kratzen oder gleich scheitern. Zum Beispiel am umwerfend reichen Veilchen- und Pflaumenduft des 2020 Pinot Noir***, diesem kompromißlos trockenen Wein, der mit seiner würzigen Aromatik nicht schmeichelt, sondern dessen Süße man mit der Zunge geduldig herauslösen muß. Oder am 2022 Sauvignon blanc, den im Moment einzigen Weißwein aus der "Oratio"-Linie. Sauvignon blanc kennt jedermann, wohl eine der am leichtesten zu identifizierenden Aromatiken der Weinwelt, und zwar genau so lange, bis man diesen hier im Glas hat. Seine Duft- und Geschmackswelt ist am sichersten mit "grün/gelb" zu umschreiben, weiter wollen wir nicht gehen. Höchstens stellt man die selbstbewußte Bitternote des kraftvollen Weines fest und leichte Süße vom Ausbau in zweit- und drittbelegtem Holz und wundert sich über die spät kommende Weichheit oder Cremigkeit, die die Jahrzehnte alten Reben aus dem Lößboden mitnahmen.
Hermanns Spitzenlinie ist benannt nach dem Vogelsangpass, auch bekannt als "Bötzinger Steige" zwischen den Orten Bötzingen und Altvogtsburg im Osten des Kaiserstuhls. Latinisiert zu "Cantus Avis" versammeln sich hier ein Chardonnay, Pinot noir als "Standard" sowie als "Reserve" aus über vierzig Jahre alten Reben auf Vulkanverwitterungsgestein, Vergärung mitsamt Stielen und lange Maischestandzeit, um alles an Farbe und Geschmack aus den Beeren zu saugen, Kaltmazeration, um die Frucht strahlen zu lassen, und zur Abrundung achtzehn Monate Ausbau im kleinen Holzfass (burgundisches piéce anstatt eines Barrique). Was entsteht aus dieser Breitseite an Kellerkunst?
Im Frühjahr 2024 ist der 2022 Chardonnay natürlich noch zu jung, zu streng, da helfen im Moment weder Lößböden noch behutsamer Holzausbau oder Verzicht auf Filtrierung. Zitrusfruchtig, leicht reduktive Note, aber später weicher werdend, wasserziehend und lange am Gaumen haftend mit saftigem Zweiklang von Zitrone und deren bitterem Abrieb.
Der 2017 Pinot noir „Cantus Avis“ wurde im Spätherbst 2023 in der Erwartung geöffnet, daß wir es mit einem einigermaßen gereiften Pinot zu tun haben. Im Duft Sauerkirsche, Likörkirsche, süß, fruchtig, kraftvoll, durchdringend und mit der Zeit immer voluminöser. Daneben rote Paprika, etwas rote Beete, später Nougat und sehr hintergründig Graphit, und alles geht nach einiger Zeit in Zedernholz, süßem Tabak und Zimt auf. Animalik erwarteten wir auch, stellten jedoch nichts fest. Ein komplexes burgundisches Potpourri, ungewöhnlich für die Gegend, aber wir haben hier nicht den klassischen Kaiserstühler im Glas. Im Mund nimmt der Vogelgesang nichts von seiner Duftwelt weg. Zunächst ist er jugendlich verschlossen, dekantieren hilft, dann wird er samtig, dicht, vollmundig, gerade noch nicht zu fleischig, und er fügt seiner reichen Aromatik als Gruß vom Boden noch Feuerstein und Kaminholz im langen, tanninstrengen Nachhall hinzu. Nicht einfach zu genießen, nichts für sorgloses Nebenher, ein fordernder Wein, über den man halbe Romane schreiben könnte. Belassen wir es dabei und wenden uns dem 2020er Exemplar zu. Süßer, animierender Duft, Zimt, Zwetschge, Holz, auch schwarzer Pfeffer und durchaus zugänglich, jedoch wird der Wein umso komplexer und spannender, je länger man an ihm rätselt. Stark und robust, vielschichtig in der Aromatik mit klarer Frucht und etwas zu prägnanter Holznote. Angenehm samtig am Gaumen, langer, eigenartig (mangels besserer Vokabel:) ruhiger Nachhall - also nicht alkoholisch heiß oder knochenstaubtrocken, kein Doppel- oder wie auch immer "Wumms", sondern seltsam entspannend, und das ist für einen derart hochklassigen Wein eine Überraschung. Die 2020 Reserve ist dem Normalexemplar, wenn man es so nennen will, im Duft ähnlich, nur nuancierter, feiner, dabei intensiver und ohne irritierenden Holzton. Im Mund wirkt er ausgewogener, sanfter, dabei nicht weniger kraftvoll, und das Holz schafft Tiefe und steht nicht im Vordergrund. Für uns macht Weingenuß am meisten Spaß in angenehmer Gesellschaft, und zwar mit Menschen, die solchen Wein zu schätzen wissen. Falk Hermanns 2020er Reserve sehen wir dagegen als Begleiter des ungestörten Nachdenkens oder vielleicht der "Oratio", und damit schließt sich der Kreis.
Lassen wir es nicht zu mystisch enden: Mit dem Secco Rosé aus dem inzwischen selten gewordenen Regent bietet Herrmann für heiße Tage und zu günstigem Preis eine fröhlich-dichte Erdbeerbombe an, einen Secco zum Lutschen mit köstlicher Frucht, angenehm zivilisierter Perlage und gutem Nachhall.