Man stelle sich vor: a) nette Gäste eingeladen, b) gutes Essen geplant, c) Wein muß her, d) wenig Ahnung davon, weil man LW nicht kennt. a) bis c) seien gegeben, gesucht ist die Lösung der Variablen d). Im Fachhandel umgeben von Flaschen und Kartons scheut man sich, das Personal (sofern überhaupt eines verfügbar ist) um Rat zu fragen. Selbst ist der Kenner, eine Entscheidung muß jetzt her, und da ist das Flaschenetikett der Ratgeber, Wegweiser, Appetitmacher, in der Fachsprache: teaser (engl.: to tease - reizen, locken, verlocken). Vor allem in der deutschen Abteilung warten anstatt Verlockungen jedoch visuelle Qualen auf uns: manche Etiketten sind schlicht bis nahezu leer, andere dagegen vollgepackt mit Informationsmüll á la "ideal zu Spargel", von Sulfiten oder Sulfiden - je nach chemischen Kenntnissen des Schriftsetzers - ist die Rede. Graphisch sind sie überwiegend eine Beleidigung des guten Geschmacks. Als LW-Leser kennen Sie einige der von uns kommentierten Weine. Erraten Sie, welche (sehr guten) Weingüter sich hier verbergen:
Blässliche Gestaltung in weißlich und bläulich mit einem auf den ersten und zweiten Blick an einen Urinfleck erinnernden Aquarell. Interessante Analogie für einen Wein. Irritierend, nichtssagend, trüb und betrüblich.
Mehrere gefühlte Quadratmeter leeres, cremefarbenes Papier, auf dem das Auge suchend auf und ab schweift. Aus unmittelbarer Nähe ist eine Prägung zu vermuten. Wir haben weder Lupe noch Zeit, also weiter.
Graue Bleiwüste, inspirierend wie ein Sonntag nachmittag im Spätnovember gegen sechzehn Uhr dreißig. Verschämte Schriftzüge, die uns zuzuflüstern scheinen: "Bitte kaufe mich nicht". Aber wir sind längst an der Flasche vorbeigeeilt.
Zum purpurnen Mandala fehlen nur noch Räucherstäbchen. Hier greifen Menschen zu, die ihre Wohnung mit Batiktüchern und Duftkerzen dekorieren und noch immer das "WHY?"-Poster hängen haben. Gestalterisch gelungen. Passt zu Hanf-, Verzeihung: Haferkeksen und Gesundheitstee.
Durch den Schriftzug in Times New Roman auf Chamois zieht sich das hellblaue Band des Vertrauens: Ihr Fleischermeister hat frisch geschlachtet. Nicht nur für Vegetarier zum Davonlaufen.
Der Wein, mit dem sich der Inhaber des Bestattungsinstitutes für den erfolgreichen Geschäftsabschluß bedankt. Auch zum Leichenschmaus gut vorstellbar, schließlich heißt er in Schlesien ja “Leidvertrinken”. Leider fließen die Abschiedstränen bei jedem Blick aufs Etikett von Neuem.
Unsere Aufmerksamkeit ist mittlerweile von den klaren, selbstbewußten Statements südeuropäischer und österreichischer Flaschenetiketten sowie den ganz bemerkenswerten Schweizern gefangen. Frankreich spielt dank gekonntem Umgang mit reicher Historie ohnehin in einer anderen Liga. Mit der eisernen Regel des Konsumentenmarketing: attention - interest - desire - action, kurz: AIDA scheint das gros deutscher Genossenschaften und Winzer immer noch Kreuzfahrtromantik zu verbinden. Wer aber meint, auf den Inhalt komme es an, nicht auf die Verpackung, tut den zweiten Schritt vor dem ersten.
Nachtrag: mittlerweile ist man auch hierzulande aufgewacht. Vor allem "Junge Wilde", welch blöder Ausdruck, übertreffen sich in der Kreierung ausgefallener Ideen, und zwar so sehr, daß sich langsam irgendwie alle gleichen. Politclowns bringen ihre "Nazis raus"-message auf die Flasche, ältliche Junggebliebene entdecken die Vokabel "geil" und schmieren angestrengt wirkenden Spaß aufs Papier, denn von abstrakter Kunst versteht sowieso jeder was. Wo sind die Zeiten geblieben, als der Weinberg abgebildet war, dazu Lage und Jahrgang, und gut wars. Schloß Johannisberg, wir danken Dir!
Wir zitieren aus der Badischen Zeitung vom 30. September 2011: "DLG-Bundesweinprämierung 2011 - Erfolgsbilanz für badische Weinerzeuger [...] In drei Prüfrunden hatten die Juroren bei der laut DLG führenden Qualitätsprüfung für deutsche Weinerzeuger rund 4700 Weine und Sekte von rund 350 teilnehmenden Winzerbetrieben aus allen 13 deutschen Anbauregionen getestet. 3817 Preise wurden vergeben: 62 mal "Gold extra", 1107 mal Gold, 1710 mal Silber und 938 mal Bronze [...]". Zitat Ende.
Bei den Olympischen Spielen gewännen so von 70 Sprintern nicht die ersten drei, sondern die ersten 62. Die - im wahrsten Sinne des Wortes - Krönung ist aber: die in diesem Wettbewerb wirklich Ersten bekommen "Gold Extra". Mit dem extra Gold - woanders heißt der Unfug "Gold-Plus" usw. - schafft sich der Veranstalter mehr Spielraum nach unten, damit auch fast jeder Teilnehmer seine Flaschen mit Aufklebern schmücken darf (Fachausdruck: Lametta) und nächstes Jahr samt Teilnahmegebühr sowie: Anzeigenschaltung in Weinmagazinen wiederkommt. Denn besonders diese Magazine und ihre Verlage stehen vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Damit ist für den Kunden aber jedwede Prämierung als Hilfe beim Kaufentscheid wertlos. Es ist zu vermuten, daß, wer sich auf Prämierungen verläßt, bestenfalls Mittelmaß trinkt. Spitzenwinzer verzichten auf Prämierungen ohnehin gerne: was haben sie dort auch verloren, außer die Prämierungsinflation auf die Spitze zu treiben. Bereits 1971 ätzte "DER SPIEGEL" in einem Artikel: "...von 1188 Weinen errangen 1181 Bronze-, Silber- oder Goldmedaillen - nur sieben entrannen der Auszeichnung". Und 1989 zog Peter Espe in seinem Buch "Tips für den Weinkauf" das Fazit: "Auszeichnungen: Verbeugung vor dem Massengeschmack". Manfred Klimek schreibt in einem Blogbeitrag vom Sommer 2021 von korrupten Beziehungen zwischen Veranstaltern und Teilnehmern, dies zwar in Österreich, aber wollen wir das für Bundesdeutschland wirklich von uns weisen?
Kaum ist der Wein am Tisch, wird er vom Weinkellner, pardon: Sommelier, drunter tuts ja keiner mehr, auch schon umgefüllt, weil er ja "atmen" muß, der Wein. Dabei macht Karaffieren - über den Unterschied zum Dekantieren schreiben wir vielleicht ein andermal - unter Umständen sogar Sinn: schweflige Fehltöne infolge allzu reduktiven Ausbaus können bei Jungweinen durch das Lüften verschwinden. Verschlossene, unspezifische Weine erscheinen in ihrer Struktur transparenter; Aromen entfalten sich und werden erkennbar, Tannine scheinen abgerundet und mild, dies selbst dann, wenn der Wein selbst die Klasse gar nicht hat, und das gefällt dem Sommelier natürlich. Dieser Effekt kann Stunden oder nur Minuten anhalten, denn irgendwann - hin und wieder überraschend schnell - kippt das Aroma ins Ungenießbare: Weißwein ermüdet, wird schal. Seine klar definierte Struktur verläuft, die Aromatik reduziert sich auf bräunliche Überreife und aufdringlichen Sherry. Rotwein verliert Vielfalt und Spannung, seine herbe Süße geht in Herbstlaub und bittersaurem Schwarztee unter. Auch das optische Vergnügen vergeht in Bräune und Trübheit.
Bei unbekannten und sehr alten Weinen sehen wir vom Karaffieren ab oder tun es zumindest nicht mit der ganzen Flasche. Es kann den Wein in Sekundenschnelle der Aromen berauben oder es spiegelt Eigenschaften vor, die der Wein gar nicht aufweist.
Rotwein ist grundsätzlich bei Zimmertemperatur zu servieren, wogegen Weißwein nicht genug frieren kann? Die eherne Rotweinregel stammt aus Zeiten, in denen die Zimmertemperatur selten achtzehn Grad Celsius überstieg - immerhin haben wir jetzt eine ungefähre Obergrenze. Ein Kühlschrank hat etwa sechs Grad. Das ist schon weit unterhalb der für Weißwein tolerablen Grenze von zwölf bis vierzehn Grad und bleibt Champagner und den Cocktail-Liebhabern vorbehalten.
Wenn die Weintemperatur sich im Laufe des Abends jener der Umgebung annähert, zeigt ein guter Wein in der Bandbreite von drei bis vier Grad oberhalb der idealen Serviertemperatur neue und positive Facetten, bevor er steil abstürzt: ein knapp unter vierzehn Grad servierter Grauburgunder gewinnt an Struktur und Tiefe, fruchtig-süße Aromen kommen hinzu, bevor er bei etwa siebzehn Grad fett wird. Ein Lemberger von neunzehn Grad bringt seine Tannine immer stärker zum Vorschein, bevor er hitzig wird und der Alkohol Nuancen zudeckt, ein würziger Spätburgunder entwickelt schokoladige Noten, Gewürznoten gehen dafür verloren. Der Dessertwein gewinnt ab zwölf Grad an Frucht und Substanz, verliert aber gleichzeitig schnell an Ausgewogenheit, Struktur und Finesse.
Und jetzt? Soll man etwa mit dem Thermometer am Tisch sitzen wie Louis de Funés?
Klar, warum nicht?
Zitat aus der Süddeutschen Zeitung "Vinothek Frühjahrsedition 2011": "Wein ist nicht gleich Wein...". Überrascht lesen wir weiter und erfahren, daß die im Weißbrot enthaltene Stärke Säure und Gerbstoffe des Weins zurückdränge und ihn milder wirken lasse. Weißbrot zwischen den Proben neutralisiere also nicht, sondern beeinflusse und sei als Begleiter der Weinbeurteilung untauglich. Die "Süddeutsche" schreibt weiter, daß stilles Mineralwasser den Zweck viel besser erfülle. Auch dieser Aussage stimmen wir zu, halten aber Folgendes für probierenswert: wir nehmen zwischendurch - vorhandene Stärke hin oder her - einen Bissen "Tuc"-Keks in der leicht gesalzenen Variante, nicht jene mit Paprika, Pfeffer usw. Der mürbe Keks neutralisiert die Aromen, schmeckt eigentlich nach nichts, sättigt nicht, bläht den Bauch nicht ballonförmig auf und macht schnell Platz für den nächsten Schluck. Und er reinigt die Zunge.
Sein Imageproblem hat klare Ursachen in miserabler Verbands- und Genossenschaftsarbeit und ist dennoch in einer Zeit, in der "autochthone" oder wenigstens landestypische Rebsorten en vogue sind, völlig unverständlich. In Weinblogs gilt es als schick, die Traube niederzumachen; man outet sich dann als "Kenner". Und selbst manche Württemberger Winzer wissen nicht mit der Sorte umzugehen, sonst faselten sie nicht vom Wein für "Pasta bis Pizza". Wie bei jeder Massensorte muß man an die richtigen Winzer geraten, um zu erfahren, was in diesen Weinen drinstecken kann. Wählen Sie im Holz ausgebaute trockene Weine hervorragender Erzeuger aus dem mittleren Neckarraum. Dann ist der Trollinger von eingekochten Erdbeeren und roten Johannisbeeren bestimmt, von milder Süße, wirkt saftig und cremig mit feinem Bittermandelton, entwickelt oft Tiefe und Kraft und stellt einen hervorragenden Alltagswein dar. Bleiben Sie bei der rezenten schwäbischen Küche, damit die Würze der Speisen den etwas ausdrucksschwachen Wein ergänzt. Halbtrockene Varianten eignen sich zur filigranen Küche, als Dessertbegleiter und besonders als Alleinunterhalter.
"Terrassenwein"... inhaltsleeres Schlagwort, für uns nur in Anführungszeichen erträglich. Werbeblase für schwächlich-körperlose Weiße, Füllmaterial für Bowle. Das alles wird der Klasse jener Weine, die zum sommerlichen Vor- oder Nachmittag auf der Terrasse gehören, nicht gerecht. Die Anforderungen an sie sind genauso hoch wie an Weine, die man nicht zu dieser Kategorie zählen würde, sie stellen sich nur anders dar. Der "Terrassenwein" muß höheren Umgebungstemperaturen standhalten. Er wird kühl serviert, womit die meisten Rotweine ausscheiden. Zurückhaltung bei den Tanninen, sie würden das Aroma nur verkleben. Er benötigt Säure, um frisch zu wirken und Volumen zu schaffen - damit scheidet auch der Durchschnittstrollinger aus - , Säure allein zaubert aber noch keinen "Terrassenwein" ins Glas. Also müssen starke Aromen her, damit der Wein nicht bloß beißt. Vorwiegend frische, grüne dürfen ins Glas, aber keine Eiche. Fruchtiges ermüdet, Mineralisches strengt an, Animalisches stößt ab. Glyzerin- und Alkoholgehalte sollten moderat sein, damit der Wein nicht fett wirkt und man nicht nach einem Glas hinüber ist. Um die zehn Volumenprozent halten wir für das Maximum. Da Alkohol jedoch Aromen hervorhebt und der Wein nicht unterernährt wirken soll, ist hier der nächste Balanceakt nötig. Außerdem muß er zur Auseinandersetzung, zur Erforschung einladen, darf aber nie anstrengend sein. Welcher Wein hält diesen Forderungen schon stand!